Generationsaustausch




[ erlebt: 54-jährig / 2005 ]
[ Medium: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung links: Wohnzimmer / Schrank / Fotoalbum ]
[ Archivierung rechts: Gästezimmer / Wand / Rahmen ]

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Mein Enkel Philip ist jetzt 16 Jahre alt. Vor zehn Jahren (knapp) starb seine Mutter plötzlich an einem Aneurysma. Sie hatte am 19.12. die beiden Söhne, 6 und 8 Jahre alt, einem Kindermädchen anvertraut und war in der Stadt unterwegs, um noch etwas für den Geburtstag des achtjährigen Michael am übernächsten Tag zu besorgen. Unterwegs brach sie zusammen und blieb bewusstlos bis zum Tod nach elf Tagen. Der von ihr geschiedene Vater holte die Kinder ab und nahm sie zu sich. Bei ihm und seiner neuen Frau leben die Jungen, sind von ihr adoptiert und wie die Verwandten katholischen Glaubens geworden.        Seitdem sehen wir unsere beiden Enkelkinder nur noch sehr selten. An einen Besuch kann ich mich noch sehr gut erinnern. Philip war in der dritten Klasse der Fontane-Grundschule und hatte gerade »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« auswendig gelernt. Stolz trug er alle Strophen vor. Er freute sich, dass ich mit einstimmte und weiterwusste, wenn er ins Stocken geriet. Dass die Oma die Strophen auch kannte, hatte er nicht erwartet, und man sah ihm an, dass er überrascht war.
       Auch ich hatte dieses Gedicht als Grundschulkind auswendig gelernt, und das war immerhin über 65 Jahre her. Noch heute wundere ich mich, wie viele Leute es gibt , die im hohen Alter beträchtliche Mengen an einst gelernten Gedichten und Liedern im Kopf haben. Sie sind noch nach vielen Jahrzehnten abrufbar. Das Gehirn funktioniert in so erstaunlicher Weise; man entdeckt immer wieder neue Reichweiten im Leben.
       Vielleicht ist Philipp dabei der Wert des Auswendiglernens noch klarer geworden. Vergessen wird er das Erlebnis sicher nicht. Vorgänge solcher Art führen auch Generationen zusammen, Übereinstimmung ist zu spüren.


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