Zur Erholung im Nonnenkloster




[ erlebt: 11-jährig / ~1948 ]
[ Medium: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung: Keller / Regal / Pappkarton ]

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Im Spätsommer, es muss etwa 1948 gewesen sein, fuhr ich mit einer Freundin zur »Erholung« nach Neheim-Hüsten ins Sauerland, wo wir in einem Nonnenkloster untergebracht wurden. Da mein Vater im Krieg gefallen war, musste meine Mutter mich und meine zwei jüngeren Brüder damals durchbringen. Ihre Kriegswitwenrente reichte kaum aus, um uns ausreichend zu ernähren. Ein Mal pro Monat bekam sie Lebensmittelmarken zugeschickt, doch die waren immer sehr schnell verbraucht. Einmal hatte meine Mutter die Marken sogar verloren. Da waren die Not und der Hunger besonders groß! Sehr viele Kinder litten damals wie ich an Mangelernährung und so wurden mir vom Arzt sechs Wochen Erholung verschrieben. Auch meine Freundin, die in der gleichen Straße wohnte, sollte zur Erholung. So fuhren wir zusammen hin. Alleine hätte ich die Fahrt auch niemals angetreten.
       Als wir vom Bahnhof abgeholt wurden, sind mir sofort die unglaubliche Strenge und der Befehlston der Nonnen aufgefallen. Nur eine der Nonnen war wirklich nett zu uns. Kurz darauf betraten wir unser »Erholungsheim« und ich fühlte mich noch unbehaglicher. Es war groß, dunkel, kalt und unpersönlich. Die sechs Wochen Erholung fanden während der Schulzeit statt. Doch Unterricht bekamen wir im Kloster keinen. Wir wurden meist mit Spielen, Sport und Spaziergängen beschäftigt. Der Drill, dem wir ausgesetzt waren, kam mir vor wie beim Militär. Nachdem wir uns morgens gewaschen hatten (Duschen gab es dort keine), mussten einige von uns anschließend den Waschraum saubermachen. Jeden Morgen waren andere an der Reihe. Da es eine kranke Nonne gab, die wir aber nie zu Gesicht bekamen, kam der Pfarrer eines Morgens zu Besuch, um ihr die heilige Kommunion zu bringen. Wir wussten, dass wir alle auf die Knie zu fallen haben, wenn der Pfarrer an uns vorbeigeht. An diesem Morgen war ich an der Reihe mit Wischen. Als ich gerade den Boden schrubbte, bemerkte ich plötzlich, dass alle anderen schon auf den Knien waren. Eine Nonne schrie mich so harsch an, so dass ich schnell auf die Knie fiel und dabei vor Schreck den Eimer umwarf. Als Strafe musste ich am nächsten Tag noch mal wischen.
       Das Schlimmste war aber, dass die Briefe, die wir schrieben, kontrolliert und gelesen wurden. Wir konnten unseren Eltern nicht berichten, wie es wirklich zuging. Ich konnte und wollte aber nicht lügen und habe einen Brief geschrieben, in dem die Wahrheit stand. Ich hatte auch einen Plan, wie er ungelesen in die Post gelangen konnte. Ein Mädchen musste nämlich zum Zahnarzt und hatte mir versprochen, den Brief mitzunehmen und in einen Briefkasten zu werfen. Doch bevor wir den Plan in die Tat umsetzen konnten, erfuhr ich, dass mich jemand verpetzt hatte und mein Brief abgefangen würde. Also musste ich den Brief gut verstecken. Ich habe ihn aus lauter Angst zerrissen und in der Toilette heruntergespült. Daraufhin wurden alle meine Sachen und mein Spind durchsucht. Zwar haben sie nichts gefunden und ich beteuerte, dass ich keinen Brief geschrieben hätte, doch das hat man mir nicht abgenommen. Ich wurde auch ohne handfesten Beweis bestraft. Nach dem Frühstück sperrten sie mich in den Bunker, einen Raum ohne Fenster, in dem es stockdunkel war. Die Tür wurde abgeschlossen. Bis zum Mittagsessen musste ich darin ausharren.
       Nach diesem furchtbaren Erlebnis habe ich keine Briefe mehr geschrieben. Lügen wollte ich immer noch nicht. Von meiner Mutter bekam ich zwar Briefe von zu Hause, aber ich habe ihr nicht geantwortet. Sie muss sich bestimmt Sorgen gemacht haben, nichts von mir zu hören.
       Da wir dort alle wegen unserer Mangelernährung waren, bekamen wir immer reichlich zu Essen. Das Essen war eigentlich in Ordnung. Nur der Lebertran, den sie uns zwangen zu trinken, hat wirklich ekelig geschmeckt. Das war immer ein Graus. Außerdem wurden wir regelmäßig gewogen. Und wehe wir hatten nicht zugenommen! Aber Zunehmen war so gut wie unmöglich, da wir uns alle nicht wohl fühlten.
       In den sechs Wochen sind viele Tränen geflossen, auch bei meiner Freundin. Oft hatten wir den Gedanken, einfach in den Zug zu springen und allein nach Hause zu fahren. Doch wir sind bis zum Schluss geblieben. Die Ankunft zu Hause war eine große Freude. Damals wollte ich nie wieder wegfahren, davon war ich felsenfest überzeugt. Letztendlich haben die sechs Wochen Erholung nichts gebracht, denn ich hatte kein Gramm zugenommen. Aber wir waren wohl alle heilfroh, wieder zu Hause zu sein. Nur erholt war wohl niemand.


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