Sommer 1985


Sommer 1986
Gespannt saßen Oma Lauströer und ich, jede mit einem Käsebrot und einem Becher Erdbeerjoghurt, auf dem Sofa. Wir hatten es noch rechtzeitig geschafft. Hans Rosenthal begrüßte uns zu „Dalli Dalli“ und wir machten es uns zwischen all den Kissen bequem. Dies sollte vorerst unser letzter gemeinsamer Abend sein. Morgen würde ich Mama und Papa wieder sehen, doch vermisst hatte ich sie eigentlich nicht. Die vergangenen Tage mit Oma waren wie im Flug vergangen. Wir hatten jeden Tag gespielt, zusammen gekocht oder gemeinsame Spaziergänge unternommen. Langweilig wurde es mit ihr nie. Wenn wir zum Grab von Omas Mann gingen, hatte sie eine Dose Pustefix für mich dabei, die ich dann an der unbebauten Wiese öffnen durfte. Seifenblasen stiegen über ihren stolzen Blicken in die Luft. Der Wind trieb die federleichten Kugeln in den Himmel. Als Hans Rosenthal oft genug in die Luft gesprungen war, brachte Oma mich ins Bett. Dort gab es noch eine Gutenachtgeschichte, ehe ich zu träumen begann.

Von draußen schien die Sonne durchs Fenster und es roch nach Kaffee und frischen Brötchen. Ich döste noch ein wenig und wartete bis Oma ins Zimmer kam, um mich sanft zu wecken. Dass ich in diesem Moment schon wach war, sagte ich ihr erst später, als sie mich an den Frühstückstisch bat. Doch Hunger hatte ich, wie immer so kurz nach dem Aufstehen, keinen. Da kam es mir gerade recht, dass das Telefon läutete, als ich mich hinsetzen wollte. „Geh du ruhig dran!“ meinte Oma und schenkte sich in aller Ruhe etwas Kaffee ein. Ich tele­fonierte gern. Fast täglich rief ich bei meiner Freundin aus der Nachbarschaft oder meiner anderen Oma in Münster an. Diesmal war es mein Vater, der mich sprechen wollte. Er hole mich gleich mit einem großen LKW ab, versprach er mir. Dann würden wir zusammen zum neuen Haus fahren. Dazu hatte ich überhaupt keine Lust. Dieses doofe Haus. Seitdem meine Eltern damit angefangen hatten, war kein Wochenende mehr vergangen, an dem wir etwas anderes taten als zum neuen Haus zu fahren. Dabei war es total langweilig dort. Die rund 30 Auto­wminuten weite Fahrtstrecke kannte ich mittlerweile auswendig und Thorsten, der mit seinen Eltern gegenüber dem neuen Haus wohnte, war auch nicht immer da. Am liebsten wäre ich heute einfach bei Oma geblieben und hätte an diesem schönen Sommertag wieder auf dem Feld Seifenblasen in die Luft steigen lassen.

Immerhin war die Fahrt mit dem LKW diesmal etwas spannender, als die übliche Tour in Papas Auto. Ich durfte vorne sitzen und mein Papa fragte mich, was ich in den letzten Tagen bei Oma so erlebt hatte. Als wir am neuen Haus ankamen, standen dort viele Autos. Mama lief uns entgegen, nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss. Ich merkte erst jetzt, dass ich sie doch schon ein wenig vermisst hatte. „Da bist du ja! Los, komm rein,“ begrüßte sie mich und schob mich durch die Tür. Im selben Moment stieg mir ein seltsamer Geruch in die Nase. Irgendwie chemisch, nach Farbe. Mama führte mich gleich zur Treppe, die in den ersten Stock ging. „Lauf schon mal hoch und sieh dir alles an!“ forderte sie mich auf. Ohne nachzudenken stieg ich die Stufen nach oben. Als ich dort ankam, stand die Zimmertür offen und ich sah, was ich niemals vergessen sollte. In einem riesigen Raum mit vielen Schrägen und grauem Teppichboden waren eine Schultafel, Teddy­bären, Puppen, Playmobilfiguren und noch viel mehr Spielzeug, wie für ein Foto drapiert, aufgestellt worden. Ich ging näher und mit einem Mal erkannte ich: das waren meine Spielsachen! Genau diese Tafel stand doch in meinem Kinderzimmer. Es war sogar noch meine Schrift darauf zu erkennen! Die Puppen in der Ecke trugen exakt die Kleidung, die ich ihnen vor meinem Besuch bei Oma angezogen hatte! Plötzlich begriff ich, ll diese Sachen konnten nicht mehr in meinem Kinderzimmer stehen, wenn sie doch hier waren. Alles was mir vertraut war, war aufgelöst worden, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich hatte kein Zuhause mehr und begann zu weinen.





[ erlebt: 5-jährig / 1985 ]
[ Medium 1: Text-Datei ] [ Archivierung: PC-Festplatte / Desktop / Ordner: Uni / Erinnerndes Schreiben ] [ Medium 2: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung: Elternhaus / Arbeitszimmer / Schrank / Pappkarton / Foto-Entwicklungstüte ]

w28
Im Sommersemester 2008 habe ich an meiner Uni das Seminar »Erinnerndes Schreiben« belegt. Wir sollten eine Erzählung über eine Kindheitserinnerung schreiben und im Seminar vorstellen. Ich entschied mich für ein Erlebnis, das sehr prägend war und mir deshalb noch gut in Erinnerung ist. Erstaunlicherweise fand ich erst im Nachhinein, mit Hilfe des gut sortierten und genau datierten Foto-Archivs meiner Mutter heraus, dass der Umzug ins neue Haus nicht 1986, sondern bereits 1985 stattfand.
       Beim Stöbern stieß ich u.a. auf dieses Foto von meiner Oma und mir, das uns beide beim Richtfest des neuen Hauses zeigt. Es entstand also fast zur gleichen Zeit, in der auch meine Erzählung spielt. Meine Oma scheint dort für meine Eltern ein bisschen »gekellnert« zu haben.
       Obwohl ich nicht ihr leibliches Enkelkind bin, erkennt der Betrachter auf den ersten Blick, dass Oma und ich eine tiefe Beziehung zueinander haben. Ab dem Zeitpunkt des Einzugs geriet die heile Welt ins Wanken. Zum Zeitpunkt der Aufnahme – wenige Monate/Wochen vorher (die Kleine hat noch nicht begriffen, dass sie demnächst hier ohne Oma leben soll) ist noch alles in Ordnung. Doch der Richtkranz schwebt wie ein Damokles-Schwert über uns; Unheil verkündend. In meiner kindlichen Naivität kann ich das nicht richtig deuten. Oma weiß mehr, macht aber gute Miene zum bösen Spiel. Was sollte sie eine Fünfjährige auch beunruhigen? Sie ist schließlich diejenige, die Sicherheit und Zuversicht gibt.
       Wenn ich das Foto heute betrachte, finde ich den Größenunterschied sehr auffällig. Oma ist viel größer als ich! Wahnsinn, denn während meiner letzten Besuche bei ihr im Altenheim, ist sie mir immer ziemlich klein erschienen. Sie reichte mir gerade mal bis zu Schulter. Aber auf dem Bild ist sie groß und stark, während ich klein und unsicher neben ihr stehe. Sie hat den Überblick und mich an die Hand genommen, obwohl sie eigentlich mit dem Tablett und ihrer Tasche schon genug zu kämpfen hat. Sie will mich nicht loslassen. Vertrauensvoll greife ich ihre Hand.
       Mir fällt auf, dass wir beide sozusagen »intim« geknipst wurden. Niemand schaut direkt in die Kamera. Nur das Nachbarkind im Hintergrund scheint den Fotografen entdeckt zu haben. Oma und ich sind in unserer Welt versunken. Für mich zählt, dass sie da ist und Oma hat Mühe mit dem Tablett, ihrer Tasche und dann noch einem (etwas verunsicherten) Kind an ihrer Seite. Trotzdem sieht sie nicht genervt oder überfordert aus. Das war sie nie. Keine Sekunde hatte ich je in meinem Leben den Eindruck, dass ich sie irgendwie nerve. Auch wenn das bestimmt hin und wieder der Fall gewesen ist. Sie hat es mir nie gezeigt.
       Vielleicht ist es das, warum mir das Bild so gut gefällt. Es zeigt den Moment. Nicht gestellt und ohne einer künstlich erschaffenen Atmosphäre.


© 2009 carolin lewecke // impressum // kontakt