Liebesbrief



TRANSKRIPT
Hi, S.   ¶   es ist schwierig, diesen Brief anzufangen, genauso wie es schwierig war, daß einzusehen, daß es wohl besser ist, wenigstens etwas zu schreiben statt dir ständig aus dem Weg zu gehen und zu versuchen, das ganze zu vergessen.   ¶   Ich bin wirklich ganz do schön verliebt in dich und das schon seit längerem. Du weißt wahrscheinlich, daß die Rose zum Valentinstag von mir war, ich wollte dir an diesem Tag zeigen, daß jemand an dich denkt, aber alles so schnell wie möglich vergessen. Nun, ich kann mir vorstellen, daß du nicht das meiste von mir hälst, du solltest aber trotzdem wissen, daß ich es ernst meine und ich dich nicht nur sehr attraktiv, sondern auch sehr nett finde. Eigentlich wollte ich es aufgeben, aber oft denke ich einfach nur an dich, dann bist du alles für mich, wenn auch unerreichbar. Ich starre dich zwar nicht den ganzen Tag an, weil es wohl nicht nur mir sehr peinlich wäre, aber dieser Brief ist schon der vierte, den ich an dich schreibe, vermutlich wird er wie die anderen im Mülleimer oder Tagebuch landen. Wenn nicht, dann hoffe ich, du kannst damit mehr anfangen als mit ein paar gestotterten Sätzen, ich bin scheinbar unfähig, mit Gefühlen umzugehen. Bitte scheib’ mir zurück, ein Stück Papier, auf dem ”Vergiss es“ draufsteht, reicht mir schon, nur, es ist so komisch, da plötzlich wieder etwas zu schreiben und dabei nachher nicht einmal zu wissen, ob du ihn es überhaupt entziffern konntest.   ¶   Als ich ”es tut mir leid“ geschrieben habe, wollte ich dir sagen, daß es mir leid tut, wenn du jemand anderen erwartet hast und dachtest, vielleicht wird noch etwas daraus.   ¶   Ich hoffe, dieser Brief klingt nicht zu sehr nach S. E. und hängt nicht am schwarzen Brett, bevor du ihn gelesen hast und daß es besser war, zu schreiben statt dir den ganzen Tag Cornies anzubieten bis du merken könntest, daß es kein Zufall ist (mittlerweile finde ich das auch ziemlich schlecht) oder es jedem zu erzählen, damit du es mitkriegen könntest, vielleicht hätte ich es auch besser für mich behalten.




TRANSKRIPT
Eines Tages, wenn ich wieder darüber lachen kann, kann ich dir dann meine neue Gedichte­sammlung zeigen, aber zur Zeit habe ich Liebeskummer...   ¶   Tja, so langsam brennen meine Kerzen runter und ich weiß noch nicht, wann und ob ich dir diesen Brief geben werde,
aber das wird sich bald herausstellen, gute Nacht oder ähnliches,   ¶   M.



[ erlebt: 14-jährig / 1997 ]
[ Medium: Brief ] [ Archivierung: Haus der Mutter / altes Jugendzimmer / Regal / Metalldose / Metalldose ]

w25
Obwohl ich lieber in der Gegenwart lebe und nicht allzu viele Erinnerungsstücke aufbewahre, habe ich dennoch im Haus meiner Mutter unauffällig in einer kleinen, gut versteckten Dose, Liebesbriefe von früher aufgehoben. Mir bedeuten diese Briefe nicht viel, aber wenn ich sie lese, schmunzle ich und denke gern an die Vergangenheit zurück.
       Ich erinnere mich wie ich diesen Brief im Herbst 1997 in der 9. Klasse erhalten habe. Natürlich wusste ich bereits vorher von Freundinnen, dass mir M. einen Brief geben wollte. Es hatte zur Schulpause geläutet und ich hatte mit einer Freundin Klassenaufsicht. M. und ein Freund blieben ebenfalls im Raum. Just in dem Moment als M. mir den besagten Brief geben wollte, kam ein Lehrer herein und schickte die beiden auf den Schulhof. Letzten Endes bekam ich den Brief auf eine unspektakuläre Weise in der nächsten Pause im Treppenhaus zwischen Schülern, die zum Klassenraum stürmten. Der Brief war mit Moschus-Duft parfümiert und riecht auch heute noch ein wenig danach.
       Gemeinerweise habe ich ihm damals nur eine einzeilige Nachricht mit einer klaren Absage zurück geschrieben. Das tut mir im Nachhinein leid, denn es war und ist wirklich ein schöner Brief. Er war immer etwas Besonderes, weil er im Vergleich zu anderen Liebesbriefen länger und interessanter war. Ich schätze an diesem Brief die Tatsache so ungemein, dass M. erkannt hat, wie vergänglich Gefühle sind und wie schnell sich Wahrnehmungen im Hinblick auf die Liebe ändern. Denn ich weiß, wenn M. diesen Brief heute noch mal lesen würde – er würde darüber lachen.


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