Der schönste Platz der Stadt




[ erlebt: 21-jährig / 2006 ]
[ Medium: Postkarte ] [ Archivierung: WG-Zimmer / Fensterbank ]

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Seit 2004 wohne ich in Deutschland. Wahrscheinlich bedeutet mir meine Heimatstadt Budapest deshalb viel mehr als früher. Diese Stadt ist für mich eine Erinnerung an ein anderes Leben, an eine andere Sprache, unter anderen Menschen.
       Im Sommer 2006, als ich zu Besuch in Budapest war, stand ich mal an einer Bushaltestelle am »Ferenciek tere«, einem zentralen Platz in der Nähe der berühmten Einkaufstraße der Stadt. Ein Junge, so acht Jahre alt, wartete auch mit seinen Eltern auf dem Bus. Die Eltern haben sich unterhalten. Ihr Sohn schaute sich um und ganz unerwartet sagte er: »Szerintem ez Budapest legszebb tere!« was so viel heißt wie »Ich halte diesen Platz für den schönsten der Stadt.« Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen und sagen, dass ich es auch so sehe. Dass der Platz mir oft fehlt. Dass ich oft an ihn denke. Dass dieser Platz für mich das Erinnern an sämtliche Freunde, eine große Liebe und an ganz viele lustige Geschichten bedeutet.
       Ich komme ursprünglich aus einem Arbeiterviertel der Stadt. Da sind nur Häuser, in denen man wohnt, die man aber nicht für besonders schön hält. Den Ferenciek Tere dagegen fand ich auf seine typische Budapester Art immer sehr faszinierend.
       Mit verzierten Fassaden und hohen Häusern ist er flankiert. Es gibt hier auch ein Gebäude mit einem etwas unheimlichen, abgenutzten und düsteren Innenhof aus der Jahrhundertwende. Sein Dach besteht aus Glas und Stahl, durch den es kein einziger Sonnenschein mehr bis zu den bunten Keramikplatten des Bodens schafft. Die Glasplatten sind mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt.
       Ich stand einen Sommer lang jeden Tag an der Bushaltestelle, um meine Stiefmutter bei der Arbeit zu besuchen. Bei ihr konnte ich ins Internet und damit mit Freunden in Kontakt bleiben, die nicht mehr in Budapest lebten. Einer meiner besten Freunde wohnt noch immer ganz in der Nähe des Platzes. Wir treffen uns immer wieder auf dem Platz der Ferenciek. Auch meine große Liebe wohnte damals fünf Minuten von hier entfernt. Lange war ich in ihn zwar unglaublich verliebt, jedoch ist es mit uns beiden nie was geworden. Als ich ab und zu an seiner Haustür vorbeilief, habe ich trotzdem gehofft, dass ich ihn sehe. Mit meinen Freunden bin ich nachts öfters hier lang gelaufen, auf dem Weg von einem Lokal zum anderen. Es gab hier mal ein nettes Presso (heißt auf ungarisch Café). Sie haben sehr guten Kaffee und günstiges Bier gehabt. Und an einer Ecke stand immer der lustige Bettler, den man schon gekannt hat. Es stehen da allgemein immer noch viele Bettler.
       Ich habe mich im Sommer 2006 nicht getraut, dem Jungen zu sagen, dass ich den Platz auch für den schönsten der Stadt halte. Und die Eltern haben diese reife Erkenntnis ihres Sohnes gar nicht bemerkt.
       Ein paar Tage später habe ich diese Postkarte entdeckt und mit nach Deutschland genommen. Jetzt erinnert die Karte mich nicht nur an meinen Lieblingsplatz, sondern auch an den kleinen Jungen, der ihn genauso schön fand, wie ich. Am rechten Rand sieht man unsere Bushaltestelle.


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