Speakers's Corner




[ erlebt: 21-jährig / 1951 ]
[ Medium: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung häusliche Bibliothek / Regal / Fotoalbum ]

m78
In den Semesterferien 1951 unternahm ich als Student meine erste Auslandsreise. Das Erlebnis der Speaker’s corner steht dabei als Symbol unvergesslicher Erlebnisse.
       Der Pfarrer der deutschen Gemeinde in Leicester hatte in einem angemieteten alten ländlichen Adelssitz eine Begegnungsstätte für junge Menschen aus aller Welt eingerichtet. Seiner Einladung war ich gerne gefolgt. Vor der Fahrt war ich den Problemen ausgesetzt, die von einem Einzelreisenden bei den deutsch-englischen Behörden zu überwinden waren. Die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland hatte zu dieser Zeit noch nicht die volle Souveränität erlangt und stand in Auslandsangelegenheiten unter der Oberhoheit des jeweiligen Besatzungsstaates, für Nordrhein-Westfalen also des Vereinigten Königreiches von Großbritannien. Voller Erwartung, aber auch in dem Bewusstsein, dass wir junge Deutsche sehr genau beobachtet werden würden und als Botschafter der neuen deutschen Republik aufzutreten hatten, ging die Reise los.
       Das Zusammentreffen mit etwa vierzig überwiegend eben­falls Studenten u.a. aus Frankreich, den Niederlanden, dem Kongo, Sambesia, Indien, und Südamerika war überwältigend. Es gab keine sprachlichen Schwierigkeiten, und mancher Nachtschlaf wurde einer Diskussion geopfert. Nichts kennzeichnete die Atmosphäre deutlicher als die Tatsache, dass wir alle den Pfarrer mit »Dad« und seine Ehefrau mit »Mum« anredeten.
       Worüber ich noch heute besonders stolz bin: An einem Wochenende war von Dad auch ein jüdisches Ehepaar aus London eingeladen worden, dem es gelungen war, zu Beginn der Hitler-Tyrannei nach England zu emigrieren. Ich bemerkte, wie ich mich bei ihnen als Deutscher auf dem Prüfstand befand. Natürlich stand die neuere deutsche Geschichte im Vorgrund ihres persönlichen Gespräches mit ihnen. Es ergaben sich aber auch gemeinsame Interessen auf dem Gebiet der Kunstgeschichte und der Musik. Ich traute meinen Ohren nicht: Sie luden mich in ihr Londoner Haus für die letzten zwei Tage vor meiner Rückkehr nach Deutschland. Dort hörten wir gemeinsam die Übertragung eines Konzertes aus der Albert Hall, in der Toscanini mit den Londoner Philharmonikern die und 3. Symphonie von Brahms spielte.
       Und nun komme ich zum Ausgangspunkt meiner Erinnerungen zurück. Bei meinen Streifzügen durch London hatte ich nicht nur das Glück, eine Ausstellung von Bildern des Malers William Turner im Britischen Museum am Nelson-Sphäre zusehen, sondern eben auch im Hydepark die Speaker’s corner. Der Vortrag des Redners war wie eine Quintessenz meiner Englandreise: Das freie Wort in einem freien Staate.


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