Goethes Faust





TRANSKRIPT
Transkript Die Spielschar vor der ersten Aufführung des ‚Faust’   ¶   | Dr Rotfuchs, Leiter der Spielschar   ¶   x Faust Dieter B.   ¶   – Wagner meine Wenigkeit   ¶   o Mephisto Helmut R.   ¶   + Hexe Renate K.



[ erlebt: 19-jährig / 1949 ]
[ Medium: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung: häusliche Bibliothek / Regal / Fotoalbum ]

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Dieses Bild wurde 1949 vor der Aufführung einer Szenenfolge aus Goethes Faust I aufgenommen und zeigt die Spielschar meines Gymnasiums, verstärkt durch Schülerinnen des Städtischen Lyzeums. In der Mitte zu sehen der »Regisseur« Oberstudienrat Dr. Rothfuchs. Die Aufführung fand anlässlich des Goethe-Gedenkjahres statt, denn Johann Wolfgang von Goethe ist am 28.08.1749 geboren.
       Sehe ich dieses Bild, habe ich ein Regiegespräch leibhaft vor meinen Augen, das Dr. Rothfuchs mit mir als Darsteller des Wagner, Faustens Famulus und im II. Teil der Schöpfer des künstlichen Menschen Homunculus (in Deutsch: Menschlein) geführt hat. Thema war Faustens Ende, also die drei letzten Szenen Mitternacht; Grablegung; Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde aus Faust II, 5. Akt.
       Zum Verständnis dieses Gespräches muss ich Zweierlei vorausschicken. Zunächst, dass mein Vater ein besonderer Goethekenner war, der mir schon zeitig die Augen für die unübertreffliche sprachliche Dichte und die atemberaubende Dramatik der genannten Szenen geöffnet hatte. Aber auch dies: Nach seinem Verständnis führte der Weg über das Abitur zum Studium zu einem Beruf, der zur Menschenführung befähigen müsse, wie zum Beispiel Theologe, Jurist, Arzt, Wissen­schaftler. Er forderte daher von mir die Einsicht, dass diese Kunst der Menschenführung auch und gerade schon in der Schule eingeübt werden müsse, nämlich im Falle eines Konfliktes zwischen Lehrer und Schüler. Das klang so klar und logisch, und war doch so schwer umzusetzen.
       Und nun zum Regiegespräch. Dr. Rotfuchs erklärte mir, welche Bedeutung die Rolle des Wagners im Gefüge des Gesamtdramas habe. Dabei müsse Fausts Entwicklung in Betracht gezogen werden. Wir sprachen über die Absicht des Herrn mit Faust (»wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, so werde ich doch bald in die Klarheit führen«), Mephistos Wette mit dem Herrn (»was wettet Ihr, den sollt Ihr noch verlieren«), (alle Zitate aus »Prolog im Himmel«) und über Faustens Lebens­intension (Nacht: »... dass ich erkenne was die Welt, im Innersten zusammenhält«). Wir sprachen über die Wette zwischen Faust und Mephisto (Studierzimmer II: »Werd ich zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön! ... Dann bist Du Deines Dienstes frei, die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, es sei die Zeit für mich vorbei!«). Geradezu visionär führte mich Dr. Rotfuchs über die verschiedenen Stationen, die Faust im I. und II. Teil des Dramas durchschreitet, um schließlich auf oben genannten drei Schlussszenen zu kommen. Dr. Rotfuchs: »Nicht wahr, Reinhard, das haben Sie doch verstanden?«
       Meine Antwort erschütterte ihn zutiefst: »Ich kann Ihnen nicht in allem folgen!« Denn Faust genieße den höchsten Augenblick, als die Lemuren sein Grab ausheben, während er glaubt, dass sein genialer Plan ausgeführt werde, dem Meer neue Siedlerstellen abzugewinnen: Faust habe sein Bestreben aufgegeben, die tiefste Einsicht in das Sein zu gewinnen. Nur die (falsche) subjektive Meinung, wollte ihm einst nicht genügen. Faust sei von Mephisto korrumpiert worden, Faust habe sich doch nicht als der gute Mensch erwiesen, der sich des rechten Weges zum letzten Wissen bewusst gewesen sei (»Prolog im Himmel«). Auch der Herr habe seine Wette mit Mephisto verloren. »Und« – so fuhr ich fort – »was ist das für eine Sache: muss der Herr wirklich erst kleine Eroten einsetzen, um Mephisto Faustens Seele zu entreißen? Bei der auf der tiefsten lebensphilosophischen Ebene aufgebauten Auseinandersetzung zwischen dem Herrn, Mephisto und Faust halte ich das für nicht akzeptabel.« Dr. Rotfuchs wurde blass. Mühsam brachte er heraus: »Reinhard, so dürfen Sie das nicht sehen.« »Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt!« – (Geisterchor aus Studierstube II) – schoss es mir durch den Kopf. Jugendliche Unbefangenheit und Unbedachtheit hatte diese Wirkung erzielt. Jetzt galt es, die Lehren meines Vaters über die Konfliktlösung zwischen dem – noch dazu von mir geliebten – Lehrer Dr. Rotfuchs und mir, seinem Schüler, zu bedenken und vorsichtig zurückzurudern. Ja, was ein Bild doch alles wieder in die Erinnerung rufen kann.


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