Winter 1944 / 1945




[ erlebt: 10-jährig / 1945 ]
[ Medium: Negativ-Foto-Abzug ] [ Archivierung: Wohnzimmer / Schrank / Schuhkarton ]

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Christbäume
Es war in der Weihnachtszeit 1944 in Breslau, der schlesischen Metropole. Der Krieg, mit dem Deutschland Europa überzogen hatte, wollte kein Ende nehmen und belastete die Menschen vieler Nationen unerträglich seit über fünf Jahren. Zu Friedenszeiten waren wir in diesen Tagen in froher Erwartung, die große Stadt erstrahlte im Lichterglanz und war voll fröhlicher Geschäftigkeit, nun herrschte nachts trostlose Schwärze. Aus den verdunkelten Fenstern der Wohnungen, der Fabriken und Büros und der Straßenbahnen durfte kein Lichtstrahl nach draußen dringen, selbst die Straßenlaternen waren ausgeschaltet oder so verdunkelt, dass ihr spärliches Licht die gespenstische Umgebung kaum erkennen ließ. Fahrzeugscheinwerfern hatte man eine Schlitzmaske verpasst, damit kein verräterischer Lichtschein himmelwärts scheinen konnte, um als Ziel für täglich anfliegende Bombenflugzeuge zu dienen.
       Makabererweise nutzten die Feinde jedoch eine andere Technik: sie ließen Leuchtkörper aus Magnesiumfackeln sanft zu Hunderten an Fallschirmen zur Erde herabschweben, die sie in grellweißes Licht tauchten. Seltsamerweise verdrängte die Schönheit dieses Anblicks der unzähligen Lichter am dunklen Dezemberhimmel für die Augenblicke vor der Zerstörung das bange Grauen der Menschen vor der todbringenden Bombenlast. Dachten so auch Erwachsene oder waren das nur Eindrücke, die so in der Erinnerung eines damals zehnjährigen Jungen haften blieben? »Christbäume« nannte man die lautlos herabschwebenden Boten des Todes.

Evakuierung
Nach den Weihnachtsferien geriet die Welt für mich, den zehnjährigen Jungen aus der Breslauer Vorortsiedlung Bischofswalde, noch mehr in Unordnung, da die Schule nicht wieder begonnen hatte. Es war bitterkalt in diesen Januar­tagen. Schnee lag schwer auf den Fluren und zu Eis erstarrt auf den Straßen und Gräben. Selbst die Oder war fast zugefroren. Doch die Lust auf fröhliche Winterspiele mit den Freunden wie früher wollte nicht aufkommen. Vater und großer Bruder waren vermisst oder in Gefangenschaft, meine Mutter krank vor lauter Sorgen. Nichts war mehr so, wie es hätte sein sollen. Schon seit vielen Wochen zogen aus dem Osten endlose Trecks durch die Hauptstraßen. Auf den Pferdewagen saßen meist Alte und Kinder, vermummt aus Schutz vor der beißenden Kälte. Es war ein stummer Zug, denn Erschöpfung und Kälte ließen die Menschen apathisch werden. Die Zukunftsängste fuhren mit. Wir noch Behausten empfanden Mitleid mit den von Haus und Hof Vertriebenen. Wer helfen konnte, tat es. Doch dass uns das gleiche Schicksal treffen könnte, wollte noch niemand wahrhaben. Konnte man denn eine ganze Landsmannschaft, die Schlesier, mit blühenden Städten und Dörfern, die seit Jahrhunderten ihre angestammte Heimat bewohnte, so einfach hinauswerfen?
       Das glaubte man auch noch nicht, als am nächsten Vormittag ein Vertreter des Ortsgruppenleiters an den Haustüren klingelte und für den kommenden Tag, den 10. Januar 1945, die Evakuierung aller Alten und Kinder befahl. Widerspruch war nicht möglich. Als Trost hieß es amtlicherseits noch, dass wir spätestens in vierzehn Tagen wieder in unsere Häuser zurückkehren könnten. Dann begann daheim ein hektisches Treiben. Soweit auf die Lebensmittelkarten bei Bäcker oder Kaufmann noch etwas Essbares zu bekommen war, wurde eingekauft. Mutter schnitt die Brote auf und röstete die Scheiben auf dem Kohleherd. Dann wurden sie mit anderen Lebensmitteln in einen großen verzinkten Wäschekochtopf geschichtet, der einen glatten Unterboden hatte. An den Griff kam eine Wäscheleine, und fertig war für mich ein Transportmittel für die eisglatten Straßen. Auf den Kinderschlitten wurde ein mit den nötigsten Utensilien hastig gepackter Koffer gebunden: für die nächsten »vierzehn« Tage. Dann schnell noch die Wohnung aufgeräumt und an jede Schranktür ein Zettel mit den Inhaltsangaben geklebt. Alle Schlüssel blieben stecken, auch der für die Haustür, damit niemand sich gewaltsam Einlass verschaffen musste.
       Am anderen Morgen sammelten sich viele verstörte Menschen an der Straßenbahnendstation. Da pro Person nur ein Gepäckstück mitgenommen werden durfte, musste Vieles unter Protest zurückgelassen werden. Mutter regte sich so auf, dass sie vor der herannahenden Straßenbahn auf den Schienen bewusstlos zusammenbrach. Dadurch durften wir sogar den Schlitten mitnehmen. Durch die Stadt, in der überall Verteidigungsgräben ausgehoben wurden, ging es zu einem Vorortbahnhof. Ein beheizter Zug brachte uns etwa fünfzig Kilometer westwärts, von wo aus wir zu Fuß mühselig mit Schlitten und Schlittentopf von Dorf zu Dorf weiterzogen. Viele Menschen hielten diese Tortur nicht durch. Wir kamen bis Bautzen, wo wir Verwandte hatten, mussten aber auf Anordnung bald Richtung Tschechoslowakei weiterziehen, wo wir in einem tschechischen Lager das Ende des Krieges erlebten.
       Das Bild von mir und meinem Bruder auf den winter­lichen Oderwiesen ist eines der wenigen persönlichen Andenken, das mir aus der Zeit vor dem Krieg und der Vertreibung geblieben ist. Es lässt automatisch Gedanken an die furchtbaren Kriegs-Geschehnisse wieder aufkommen, die meiner und so vielen anderen Familien widerfahren sind. Da wir davon ausgingen, nach vierzehn Tagen wieder zurückkehren zu können, nahmen wir nur das Nötigste mit – dazu zählten weder Fotos noch eine Kamera. Nicht nur dieses Bild, auch die heutigen Bildberichte in Presse und Fernsehen sind Auslöser dafür, dass sich die hier geschilderten, längst vergangenen Lebens­situationen wieder ins Bewusstsein drängen.


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