Das Pätchen



TRANSKRIPT
G., den 29. Februar 1988   ¶   Lieber D., mein liebes Pätchen!   ¶   Soeben habe ich mit Deiner Mutti gesprochen, habe ihr mitgeteilt, daß ich von Gerhard S., Bln., einen Brief bekommen habe (Gerhard ist der Sohn von meinem gefallenen Bruder Fritz) und bei dieser Gelegenheit fragte ich, ob 7 sie Dich zur Bahn gebracht haben. Unter anderem teilte Deine Mutti mir mit, daß Du die Absicht hast, mit jemand mit dem Motorrad mitzufahren, wenn Du zum Wochenende zu Deinen Eltern in Urlaub fährst. – Lieber D., ich bitte Dich von Herzen, tu das nicht, die meisten tödlichen Unfälle passieren mit dem Motorrad. Die Eltern haben Euch nicht mal erlaubt, zur Schule oder sonstwohin mit dem Moped zu fahren, sie haben Dir sogar erlaubt, ein Auto zu erwerben u. zu fahren. Sag mal, wer hat Dir diesen Floh ins Ohr gesetzt, mit dem Motorrad diese weiten gefährlichen Straßen zu fahren, bezw. mitzufahren, wo Du es doch so gut und so bequem und umsonst mit den besten Zügen von hier nach Oldenburg fahren kannst. Hier kannst du dich ausruhen, entspannen oder lesen oder Dich auf Dein Studium vorbereiten, mit dem Motorrad ist es blanker Selbstmord. Lieber D., solltest Du meine Mahnung in den Wind schlagen, dann muß ich Dir leider sagen, so leid es mir auch tut: Dann brauchst nicht mehr zu mir zu kommen, ich will nicht jedes Wochenende in O Todesängsten schweben, daß Dir etwas passiert, dann ist Schluß mit Postsparbuch, Südafrika, Prämie und halbem Haus. Ich meine es ganz ernst, Du bist doch mein Pätchen und der Gedanke, daß Du so enden sollst, macht mich traurig und ich muß weinen, während ich diese Zeilen schreibe.



Lieber D., wenn auch Deine Eltern Dich nicht davon abbringen können, mir zuliebe tu es nicht. Schon wenn ich daran denke, daß ich Dich damals in der Nordsee bei Flut unter Wasser hochgehalten habe bis zur Sandbank, weil Du kleiner Pimpf es nicht bis zum Ufer zu schwimmen schafftest, daß ich unter Wasser Dich hochhielt und zur Sandbank ging, Dich dort absetzte und alles Wasser ausspuckte, das ich geschluckt hatte, wenn ich daran denke – und ich denke oft daran – dann bin ich dem lieben Gott dankbar, daß Du noch lebst und nur Dein Badeschuh bei Ebbe an der Bühne lag. Lieber D., damals hat der liebe Gott uns geholfen, daß Du noch am Leben bist, aber hier willst Du Dich mutwillig in Gefahr begeben. – Wer sich in Gefahr begiebt, kommt darin um, steht schon in der Bibel. –   ¶   Mein lieben Pätchen, sollten deine Eltern am kommenden Sonntag nach Bad Wildungen fahren, oder vielleicht am Sonnabend, ich weiß nicht, ob ich in dieser Kälter mitfahre, wir können dann noch am Telefon besprechen, wie wir es mit dem Mittagessen machen. – Im Anschluß an diesen Brief will ich noch an F. schreiben und dann einen Brief mit der Schreibmaschine an die Feuerversicherung, die durchaus mein Haus höher versichern wollen, wogegen ich mich sträube, denn hier ist ja nichts verändert worden. Auf dem mir zugeschickten Fragebogen steht: Haben Sie eine Sauna, einen Partykeller, einen Hobby-Keller, Wärmepumpe, Solaranlage, neue Innentüren, Kamine, Kachelöfen, Schwimmbad usw. eingebaut? Und das in einem Reihenhäuschen, zum Lachen. – Mausi hat wieder Husten, die ist auch andauernd krank. –   ¶   So mein liebes Pätchen, ich wünsche Dir eine gute Woche bis zum nächsten Wiedersehen. Viele liebe Grüße! Deine Oma K. von der A.   ¶   Hast Du Dein Fahrrad noch immer nicht zurück, das Dir geklaut wurde?



[ erlebt: 21-jährig / 1988 ]
[ Medium: Brief ] [ Archivierung: Elternhaus / Wohnzimmer / Anrichte ]

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Meine Oma mütterlicherseits war gleichzeitig auch meine Patentante. Sie war immer großzügig, gab uns Geld, kochte gerne für uns, nur war sie auch sehr misstrauisch gegenüber Allem und Jedem. Sie bezahlte uns, meinem Bruder und mir, sogar den Autoführerschein. Aber das Motorradfahren war wohl ein rotes Tuch für sie. Dass ich evtl. mal mit jemandem mitfahre, hatte ich wahrscheinlich nur mal nebenbei erwähnt.
       Ich war damals, 1988, beim Bund im 470 km entfernten Putlos an der Ostsee. Die Strecke mit dem IC ab Hamburg war ok, aber von Putlos bis Hamburg sehr umständlich. Auf meiner Stube gab es einen, der eine Chopper hatte und an den Wochenenden regelmäßig damit von der Kaserne nach Hamburg fuhr. Es hätte sich auf jeden Fall angeboten, mit ihm mitzufahren. Als Oma davon gehört hat, war sie jedenfalls auf 180 und schrieb mir diesen Brief, in dem sie mir sogar mit Enterbung drohte. Das nahm ich aber nicht so ernst. Schließlich hatte ich selbst eingesehen, dass es im Februar keinen Sinn macht, sich mit dem Motorrad mitnehmen zu lassen. Nur eine Runde in der Kaserne haben wir probehalber gedreht.
       Die Sache mit der Lebensrettung ist eher überliefert, als dass ich mich daran erinnern könnte. Sie hat mir die Geschichte mindestens 30 Mal erzählt, so dass ich sie in- und auswendig kannte und auch in diesem Brief hat sie es sich nicht nehmen lassen, mich daran zu erinnern. Im Alter von acht oder zehn Jahren bin ich mit meinem Bruder, meiner Mutter und meiner Oma an der Nordsee gewesen. Ich erinnere mich an Ebbe, Flut, Wattenmeer, Krebse, Quallen und Priele. Bei Ebbe waren die Priele voll mit Tieren und bei Flut konnte man schwimmen.
       Als wir Vier einmal weit draußen waren, wurde es allmählich kalt und wir müde. Also schwammen wir zurück zum Strand. Das Wasser war tief, vor allem im Priel. Mama und mein Bruder waren mir und Oma ein Stück voraus, so dass die beiden nichts davon mitbekamen. Oma erzählte mir, ich hätte Wasser geschluckt und wäre immer öfter unter Wasser gewesen. Sie dachte, ich wäre kurz vor dem Ertrinken. Also holte sie tief Luft und hob mich hoch, während sie unter Wasser »lief«, bis wir zu einer sicheren Sandbank gelangten. Ich weiß nichts davon, weder Panik gehabt zu haben, noch dass sie mich von unten über Wasser gehalten hat. Es passierte wohl zu viel auf einmal. Jedenfalls war das der Tag, an dem sie bzw. Gott mir aus ihrer Sicht das Leben gerettet hat, das ich zukünftig nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.
       Im Nachhinein kann ich Oma verstehen. Ich war ihr Enkel und ihr kleines »Pätchen«, für das sie alles gemacht hat. Diesen Brief durch Zufall wieder entdeckt zu haben, zehn Jahre nach ihrem Tod, war schon irgendwie seltsam. Nun musste ich mir doch noch einmal die Geschichte meiner Lebensrettung anhören. Aber es erinnert mich auch an ihre gut gemeinte, oft übertriebene Fürsorglichkeit – so war sie nun mal und so wird sie mir auch in Erinnerung bleiben.


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