Im Autoradio



[ erlebt: 25-jährig / 2001 ]
[ Medium: Eintrittskarte ] [ Archivierung: Arbeitszimmer / Bücherregal / Zigarrenkiste ]

m32
Ich erinnere mich, dass wir 2001 keinen CD-Player im Auto hatten, als wir nach Berlin fuhren. Im September. Nicht einmal an den Wagentyp kann ich mich erinnern. Es muss wohl das Auto meiner Eltern gewesen sein. Mein Bruder am Steuer, auf dem Beifahrersitz eine Bekannte, auf der Rückbank ein Freund von mir und ich hinter dem Beifahrersitz. Wir hörten Radio, was mir heute recht merkwürdig vorkommt. Wer hört denn bitteschön Radio? An die Einzelheiten erinnere ich mich jedoch relativ gut.
       Die Radiostimme sagte, dass soeben ein Flugzeug in eines der Gebäude des World Trade Centers geflogen sei. Bei dem Flugzeug handele es sich um ein kleineres Sportflugzeug. »Ach, du Scheiße« hat bestimmt jemand gesagt, oder so was Ähnliches zumindest. Das war schon eine Meldung. Hat man nicht alle Tage. Fünf Minuten später wuchs das Flugzeug allerdings zu einem Passagierflugzeug heran. Und jetzt waren wir etwas verunsichert. Mein Bruder änderte also den Sender. Deutschlandfunk. Das Unglück wollen wir jetzt mal genauer wissen. Wir hören also, dass ein Passagierflugzeug in einen der Türme des World Trade Centers geflogen sei. Genaueres zu den Umständen des Unglücks könne man noch nicht sagen. Wir hören das und nur wenige Augenblicke später meldet unsere neue Radiostimme, dass ein weiteres Flugzeug in den zweiten Turm des World Trade Centers geflogen sei. Und wir haben nur noch ein »Was?« auf den Lippen. Mehr geht gerade nicht. Wir hören das alles Live. Ein weiteres Flugzeug stürzt auf das Pentagon. Und ich hatte eine panische Unruhe. Ich glaube, ich sagte laut: »Aufhören«.
       Terroristen. Ein viertes Flugzeug stürzt in der Nähe von Philadelphia ab. Möglicherweise auf dem Weg Richtung Weißes Haus. Als eine weitere halbe Stunde nichts geschieht, geht wenigstens die Panik. Vier Leute und ein panisch ängstliches Gefühl auf dem Weg nach Berlin. Es platzt aus mir heraus, froh sein könnten die Amerikaner jetzt doch, dass sie so einen Deppen zum Präsidenten gewählt haben; der zeige jetzt eine angemessene Reaktion. Ganz sicher.
       Wir sind in Berlin und sehen die Bilder in einem Fernsehgerät eines Freundes meines Bruders. Er wohnt in einer Studenten-WG. Ein Mitbewohner ist der Meinung, dass die Amerikaner doch selbst dran schuld seien. Das hätten sie nun davon. Eine Einschätzung, bei der ich eine merkwürdige Ratlosigkeit verspüre. Gehen wir zu Radiohead? Deshalb sind wir doch in die Hauptstadt gefahren. Wir haben Karten, schon seit längerer Zeit. 67,50 DM. Deutsche Mark. Wir gehen. Vielleicht schicken sie uns wieder fort. Aber das Konzert findet statt. Wir stehen auf den Treppen, Bühne Berlin Wuhlheide. Radiohead hat noch nicht angefangen und eigentlich ist es uns auch egal, ob sie anfangen werden. Wir haben jetzt auch die Bilder im Kopf. »Das sind ungebildete Idioten aus ärmsten Verhältnissen«, sage ich, lange bevor sich herausstellt, dass sie an der Technischen Universität in Hamburg-Harburg studiert haben. Radiohead spielt, aber niemand sagt etwas. Keine Ansagen. Dann doch. Er wisse nicht, was er sagen solle. Mehr nicht. Ein Beerdigungskonzert oder ein Fest für das Ungewisse. In der Nacht fahren wir schweigend nach Hamburg zurück. Auch heute ist ein sonniger Septembertag. Die Karte bewahre ich in einer alten Zigarrenkiste auf, wie die vielen anderen Eintrittskarten auch, die ein Datum tragen, das mir vollkommen beliebig erscheint.


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