Das Eerlebnis des Sollens



TRANSKRIPT
Das Erlebnis des Sollens ist ein metaphysisches Erlebnis. Es ist das Ergebnis, die gefühlsmäßige Reaktion auf eine ganz besondere Begegnung in meiner inneren Welt, und zwar die Begegnung mit etwas hohem, sozusagen königlichem, göttlichem. Das Gefühl des Sollens ist zudem ein sogenanntes gemischtes Gefühl. Es ist gewissermaßen ein Kind von Eltern, die aus ganz verschiedenen Welten kommen, nämlich einmal aus der Welt der Erde, der Natur, des Lebens, der sinnlich vernehmbaren Wirklichkeit und zum anderen aus der Welt des Himmels, des Geistes, des Wertes. Zu diesem Gefühl des Sollens ist darum überhaupt nur ein Wesen fähig mit “zwei Seelen in seiner Brust“: der Seele Begehrungsvermögen, und der Seele Verehrungsvermögen. Das Erlebnis des Sollens bedeutet: in seinem Inneren eine Mitteilung „von oben“, von einer königlichen Instanz zuempfangen. Aber man kann nicht ganz Ohr sein gegenüber dieser Mitteilung, weil gewissermaßen einer hinter, neben einem steht, der einem zur gleichen Zeit etwas verführerisches ins Ohr flüstert, so das man mehr oder weniger in sich gespalten, zerrissen, hin- und hergerissen ist, und darum besagte Mitteilung „von oben“ nicht nur als Glück, Ehre, Auszeichnung, Gabe empfindet sondern auch zugleich teilweise als Aufgabe, Beschwernis, Belastung, Elend - also als etwas, gegen das sich ein Teil von einem sträubt.



[ erlebt 20-jährig / 2001 ]
[ Medium: Postkarte ] [ Archivierung: Wohnzimmer / Schrank / Plastiktüte ]

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Ich bin eigentlich nicht so der Erinnerungstyp, also jemand, dem Andenken und das Pflegen solcher Andenken besonders wichtig sind. Dennoch gibt es Spuren und Dokumente von für mich bedeutsamen Begebenheiten meines Lebens, die bis heute fortwirken und die ich mir gern hin und wieder anschaue. Dazu zählt z.B. diese Tafel-Abschrift aus dem Unterricht meines verehrten Philosophielehrers Reinhard Röhr.
       Die Abschrift müsste aus dem Schuljahr 2001 im Rahmen einer Reihe zu Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« sein. In seinem Unterricht entwickelte Herr Dr. Röhr die Gedanken anhand gelesener kleiner, zumeist dichterischer oder prosaischer, seltener genuin philosophischer Texte, teils in Wechselgespräch mit Schülern, teils im erklärenden Monolog. Er nutzte nie eine andere Sozialform als die des »Frontalunterrichts«. Die Ergebnisse der Gedanken des Unterrichts notierte er gegen Ende der Stunde spontan in ausformuliertem Text an der Tafel, während sich die Schüler bemühten, die teils komplizierten Sätze in seiner impulsiven und schwer lesbaren Schrift in ihr Heft zu übertragen. Schon dies war mitunter eine Interpretationsarbeit.
       Seine Unterrichtstunden und die damit verbundenen Erkenntnisse, genau genommen die Bekanntwerdung mit diesem besonderen Menschen, stellt für mich ein zentrales und prägendes Ereignis in meinem Leben dar. Es war nicht lediglich der Inhalt des Unterrichtes, sondern vielmehr dessen Erlebnis. Für mich sind diese Dokumente Anlass, an diesen Menschen und das was er verkörperte zu denken und mich seiner zu erinnern im besten Sinne. Diese Erinnerung bleibt damit Bezugspunkt, Orientierung und Maßstab für das was ich mache.


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