Memoria Redemptor


Du tastest nach dem Reif an deinem linken Arm und untersuchst ihn mit den Fingern, als wolltest du sicher gehen, dass er noch da ist. Nicht das erste und auch nicht das letzte Mal an diesem Abend. Später wirst du in deiner Küche My Name Is Luca für mich singen und er wird dir erneut Halt geben. Ich werde merken, dass ich mich bei dir wohler fühle, als ich es erwartet hatte. Also sage ich, dass es Zeit ist für mich zu gehen. Du sagst nichts. Vielleicht weißt du, dass ich lüge.

Und wie du in der Tür stehst und ich auf dem Flur, möchte ich dein Haar berühren, denn heute hast du gesagt, du würdest weinen, wenn er Suzanne spielt.

Und ich möchte Dir sagen, wie liebenswert du bist, wenn du neben mir sitzt und dein Bier verschüttest (zwei Mal), weil du so nervös bist. Und dass ich nicht sicher bin, was es ist, aber dass ich es nicht erwartet habe. Und dass ich jetzt den Mut nicht finde, für die Dinge, die ich denke, für die Fragen und die Antworten und die Erklärungen. Dass ich mir manchmal selbst nicht glaube, und dass wir beide wissen, was Enttäuschung ist.

Und ich wünschte du wüsstest warum ich nicht rede, was deine Stimme mit mir macht. Und dass ich versuche dein Herz zu hören, wenn du schweigst.

Es ist ein leiser schwüler Tag gewesen. Aber in der Ferne höre ich jetzt das dumpfe Grollen, das ein spätes Sommergewitter ankündigt. Ich stehe auf dem Balkon und esse ein paar Trauben. „Vielleicht ist Leiden so prächtig wie Lieben.“ sagt das Hyazinthenmädchen. „Vielleicht.“ sage ich. Dann beschließe ich, mich auf den Weg zu machen. Als die Haustür hinter mir ins Schloss fällt, beginnt es zu regnen.

Und als das reinigende Wasser meine Haut und den heißen Asphalt erreicht, mich in den Duft von allem Neuen hüllt, sehe ich die Straße hinunter und ich schaue die Welt die da war.

Eilig laufen die Frauen in die Höfe und holen die Wäsche ein, die sie zum Trocknen hinaus gehängt hatten. Dabei haben sie Mühe, ihre Kinder zu halten, die sich ihre unschuldigen Zungen nach den klaren Tropfen strecken. Die alten Männer, taub gegenüber dem, was der Donner sagte, werfen die Stühle hinter sich, als sie, ihrer Beschaulichkeit beraubt, versuchen, ihr Schachspiel vor der nahenden Sintflut zu retten.

Und das Hyazinthenmädchen kommt zu mir herüber gelaufen und sie nimmt meine Hand und sie zeigt die Straße hinauf und ich schaue die Welt die da ist.

Und ich sehe, was sie tun. Mit Händen und Füßen, mit Panzern und Pistolen, mit Weihrauch und Myrrhe, in Kerkern und Verliesen, gekettet und gequält. Und ich sehe sie liegen, wie sie sich räkeln, una sull’altra, Salamander in Frauenhäuten, das Blut des Wolfes trinkend, sind sie verdammt zu leben, verdammt zu sterben. Die letzten Untoten, ihre sieben Tore bewacht von Schweick, dem Maler.

Und das Hyazinthenmädchen sieht mich an und lächelt. Und ich beuge mich zu ihr herunter und sie flüstert das Wort. Ich schließe die Augen und schaue die Welt die da sein wird.

Der Regen hat aufgehört, die erste Nacht der neuen Welt hat sich über die Stadt gelegt. Ich sehe Menschen mit Kerzen am Fenster stehen. Sie warten auf die, die verloren gegangen sind. Ich weiß nicht wohin. Und dann steht er da, der Partisan. Und er weiß, ich bin ein Herz ohne Begleiter. Und er führt mich an dein Haus. Es sind die Äpfel am Baum neben dem Gartenzaun, die mir klar machen, dass die Zeit oft schneller ist als die Erkenntnis.

Und wir treten ein und du sitzt da wo ich dich einst verließ, vor dir auf dem Tisch: Tee und Orangen und, geöffnet auf der letzten Seite, die Traumnovelle. Du schweigst.

„Sie ist tausend Küsse tief.“ sagt der Partisan. „Ich weiß.“ sage ich.

Dann öffne ich Türen und Fenster und ich zeige dir meine nackten Hände. Und ich öffne die Augen und sehe dich an und ich hoffe, dass du bleibst.


[ erlebt: 25-jährig / 2008 ]
[ Medium: Text-Datei ] [ Archivierung: Laptop-Festplatte / Desktop / Ordner: Worte / Word-Datei ]

m26
»Memoria Redemptor« habe ich 2008 mit ernsten Absichten begonnen. Als ich eine Freundin in Berlin besuchte, sprachen wir über ein Konzert von Leonard Cohen, das in Berlin stattfinden sollte, jedoch abgesagt worden war. Im Laufe dieses Gespräch sagte sie, sie sei sicher, wenn sie einmal die Chance bekäme, bei einem Konzert von Cohen dabei zu sein, würde sie weinen, wenn er »Suzanne«, einen seiner bekanntesten Songs, spielte. Dieses Gespräch, so wie ein intimeres Gespräch mit einer anderen Freundin ein paar Tage später, bei dem sie sehr nervös war, wollte ich in einem Gedicht zusammenführen.
       Allerdings hatte ich keine Vorstellung, wie das vonstattengehen und was das Thema oder die Geschichte des Textes sein sollte. Das Problem war, dass ich das Ding für die »Nacht der Klänge« (eine Veranstaltung meiner Uni) schreiben wollte. Da gab es einen Poetry Clash, bei dem man Texte vortragen und sich dabei von Musik begleiten lassen konnte. Ich hatte mir eines meiner liebsten Jazzstücke, »Christo Redemptor« von Donald Byrd, gewählt und die Länge des Textes darauf abstimmen wollen. Dadurch hatte ich das Problem, dass ich mehr schreiben musste, als ich ursprünglich vorhatte. Und weil ich eigentlich kein Thema hatte, kam mir irgendwann der Gedanke, dass das ernsthafte Dichten an sich eine ziemlich schwachsinnige Angelegenheit ist.
       Also habe ich schließlich zum einen Eigenschaften der beiden Frauen vermischt und versucht, beide meiner Erinnerung an die jeweiligen Begegnungen entsprechend respektvoll zu behandeln, aber zum anderen einfach beschlossen, ein bisschen mit Sprache und Bildern zu experimentieren. Das hat dazu geführt, dass ich zum Beispiel in dem Teil, der apokalyptisch daherkommt, einfach Titel von Filmen des italienischen Regisseurs Lucio Fulci aneinander gereiht habe und es würde auch jedem Rezipienten helfen, wenn er einmal T.S. Eliots »The Waste Land« gelesen hat. Zum Beispiel. Also entweder ist »Memoria Redemptor« ein genialer, postmoderner Text über irgendwas (was, weiß ich nicht genau) oder einfach ein seltsames, groteskes Experiment.


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